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Christoph Baumanns

Textwechsel


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textwechsel

hart an der grenze
der dinge kreuzen
bis sie den atem
zerschneiden
ein segel setzen
dann
deinem wort

Ulrike Bail
27. Oktober 2005

 

 

Der Wind?

Wind ist in der Stadt, in der ich lebe. Er ist immer da. Ob ich draußen oder drinnen bin. Der Wind ist immer da. Ich spüre das. Ich brauche nicht sehen, wie er Blätter und Wolken bewegt. Ich brauche sein vorlautes Strömen nicht wahrnehmen, mit dem er durch Fenster auf Kipp das Weite im Hause sucht. Ich brauche sein Kosen nicht, mit dem er mich draußen empfängt. Ich brauche nicht fühlen, wie sich zig seiner Seelen auf meiner Haut versprühen. Ich brauche nicht achten, wie er das Licht reitet. Ich brauche sein Säuseln, sein Rauschen nicht hören, um zu wissen: Bruder Wind ist da. Ich brauche den Schlag nicht, den er mir ins Gesicht versetzt, will sagen, was bist du doch für ein kleiner Pisser, dein Bruder bin ich nicht, merk dir das! Ich lache und rufe ihm trotzig zu "hey Bruder Wind". Aber nichts ändert sich. Die Schläge gehen weiter. Mein Vater konnte das: dem tobenden Wind Einhalt gebieten. Mein Vater rief dem alle und alles rüttelnden Wind zu: "Wind, werde ruhig!" Und der Wind tat dann, was mein Vater ihm zurief. Nachts trägt der Wind Godzillas Kreischen vom weit entfernten Rangierbahnhof. Auch das brauche ich nicht hören, ich weiß auch so, der Wind ist da. Morgens sehe ich meinen nackten Oberkörper im Badezimmerspiegel. Der Wind hat mich untergehakt. Es rührt mich mein Altern.

Christoph Baumanns
1. November 2005

 


altern

theodora geht die treppenstufen hinunter zum garten
verlässt hinter vorgehaltener hand den tag
zwischen den falten sammeln sich schatten
leere schneckenhäuser unterm gesträuch
auf dem handrücken wie flüsse dunkle inseln
eine unbekannte zärtlichkeit
sie geht zögernd setzt zögernd fuß vor fuß
nicht stolpern nicht stürzen vergessen den stock
vergessen es gibt keinen halt


Ulrike Bail
14. November 2005

 

 

kein Halten

An einem Sonntagabend kurz vor Herbstbeginn sangen in der Kirche am Fluss bei einem Konzert neuer Musik zwölf Frauen und zwölf Männer "da fiel mir Leben zu", das sind ein paar Worte von Ingeborg Bachmann. Die meisten Gesichter der Sängerinnen und Sänger schienen Zeugnis davon zu geben, dass der Chor mindestens einmal vom Leben zugrundegerichtet worden war. Er hatte sich aber wieder erhoben und weitergesungen: "die Erde leuchtete". Mit diesem gewaltigen Klang aus vierundzwanzig Tönen endete der Gesang. Gewaltiger noch war die Stille danach. Darin ganz langsam, ganz leise ein schwaches Pochen, wie wenn Tropfen für Tropfen auf Holz fällt, so setzte vom Mittelgang aus der Beifall ein. Dort saß allein auf weiter Flur eine alte Frau in ihrem Rollstuhl. Sie konnte ihren linken Arm nicht heben, ihre linke Hand nicht halten. Mit der geöffneten rechten Hand schlug die Frau immer wieder auf die linke, die zur Faust geformt in ihrem Schoß abgelegt war und dort unter jedem Schlag nachgab. Daran entzündete sich der Applaus, flammte hell auf und brandete schließlich dem Chor entgegen.

Christoph Baumanns
28. November 2005

 


zugrundegerichtet

aufgehängt zwischen den blinden augen gottes
scharren die säulen der kathedrale über den boden
im nach innen gestülpten ohr bricht
der gesang eines engels
schon einmal bist du ersoffen
im roten meer

Ulrike Bail
5. Dezember 2005

 

 

Der Ägypter

Er schaute die Passanten an, als würde er auf etwas warten. Er war ständig in Bewegung. Nur deshalb wurde man überhaupt des Mannes gewahr, der, nicht größer als ein Meter sechzig, in einer der Nischen zwischen den Geschäftshäusern auf der Einkaufsstraße stand. Er hüpfte von einem Bein aufs andere, schlug sich immer wieder überkreuz gegen die Oberarme. Der Mann sah in der Regel auf den Boden, hob aber immer wieder den Kopf und richtete seinen Blick auf einen der Menschen, die im Vorbeigehen auf ihn aufmerksam geworden waren. Aber keiner der Passanten, den dieser Blick traf, fühlte sich wirklich angeschaut. Der dichte weißgraue Bart, die silberne Nickelbrille, die unkenntliche Augenfarbe, die tiefen schwarzbraunen Falten um die Augen, die dunkelspeckige Baskenmütze ließen einen alten Mann erkennen. Er hatte verschiedene Sneaker an den Füßen und trug auch sonst ein sportliches Sammelsurium aus der öffentlichen Kleiderkammer.
Jemand wollte ihm Geld hinlegen, aber da gab es nichts, wohinein man die Münzen hätte legen können. Also hielt der Passant dem Mann in der Nische das Geld hin. Der schüttelte mit dem Kopf, senkte den Blick wieder und murmelte etwas, vom dem nur dieses zu verstehen war: "Ich will nichts als mein Herz in Liebe schlagen spüren, und sei es auch nur ein einziges Mal."
Der Fußgänger schloss die Hand, in der das abgelehnte Almosen lag, und wandte sich achselzuckend ab: "Wieder so ein Ägypter", sagte er dabei laut und lachelnd, "soll er doch ins trockengemauerte Meer ziehen!"

Christoph Baumanns
29. Dezember 2005

 


sehen

in einer felsspalte verkantet
eisschollen schieben sich übereinander
und nebel streunt am rand
ich mache mich auf zu den ziegen
dort bin ich blind

Ulrike Bail
11. Januar 2006

 

 

Bei den Ziegen

"Was bin ich nur für ein erbärmlicher Trottel!", verfluchte er sich selbst, während er sich Schritt für Schritt den Berg hochquälte. Und doch erzeugte die Kombination der Schimpfwörter ein Grinsen in seinem dreckig verschwitzten Gesicht. Ohne es zu merken verwischte ihm die Überanstrengung die Grenzen der Zeit. Er konnte zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr unterscheiden. Der Schmerz in Füßen und Beinen, die Mühsal des Atmens, das Gewicht des mit Wasserflaschen gefüllten Rucksacks, das durch nichts es sei denn durch den eigenen Zusammenbruch außer Kraft zu setzende Ansinnen, den Gipfel zu erreichen: Im Sommer 1995 hatte er fünfzigjährig das erste Mal den Berg bestiegen. Schon damals hatte er gedacht, dass er einer solchen Anstrengung nicht mehr gewachsen sei; er hatte es gerade noch geschafft. Jetzt, zehn Jahre später, sah er den Gipfel wieder vor sich, es waren vielleicht noch zwei-dreihundert Meter. Diesmal jedoch würde er – koste es was auch immer es wolle – nicht bezahlen können, diesmal würde er den Gipfel nicht erreichen. Ihm war kotzübel. Wie vor zehn Jahren war er wieder unterzuckert, nur jetzt wusste er es. Er lachte und weinte, ging in die Knie und schüttelte sich den Schweiß vom Gesicht. Mit letzter Kraft kramte er eine der Wasserflaschen aus dem Rucksack, trank wie ein Verrückter. Vom Gipfel lösten sich mehrere dunkle Punkte und bewegten sich auf ihn zu. Als er das Meckern hörte, hockte er sich neben den Pfad und beobachtete die Ziegen. Langsam näherte sich die Herde. Der Bock kam direkt auf ihn zu und sprach: "Was auch immer dir widerfahren ist: zieh mit uns! Wir haben den Hof verlassen, auf dem morgen unsere Zicklein geschlachtet werden sollen. Etwas Besseres als den Tod finden wir allzumal!" Er lachte, jetzt höre ich schon die Ziegen sprechen, und weinte, ich kann keinen einzigen Schritt mehr tun, und lachte, hob die Faust, rief der ganzen Herde zu: "Ja! Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!"

Christoph Baumanns
25. Januar 2006

 

 

vor dem Abstieg

die vulkane sind erloschen
die abhänge mit wein bepflanzt
das letzte hemd beschrieben

es wird sich fügen
oder auch nicht
nur eine krämerseele wiegt die asche

Ulrike Bail
7. März 2006

 

 

oder auch nicht

Brinker ließ sein ganzes Gewicht auf die Holzbank sacken: als verlören Blut, Muskeln, Nerven, Fett und Bindegewebe ihre Fassung und stürzten unter der Haut von den Schultern herab in den Schoß. Übrig blieb das Gewicht des durchgeschwitzten T-Shirts, das vom Oberhemd wie eine zweite Haut gegen den Körper gedrückt wurde. Eine unwirkliche Kälte, dachte Brinker und ließ seinen Kopf hängen. Er starrte an der Tischkante vorbei zwischen die Oberschenkel auf seine abgenutzten Bergschuhe und den steinigen Boden. Er merkte auf, wie schnell sein Atem noch ging und hielt die Luft an. Dann atmete er ganz langsam aus, spürte dabei seinen großen Hunger und Durst. Brinker rappelte sich auf, riss sich gleichzeitig Hemd und T-Shirt vom Leib und rieb sich mit dem Knäuel Bauch und Rücken ab. Im Rucksack hatte er noch ein T-Shirt; es war zwar dreckig, aber trocken. Das zog er über und griff zögernd nach der Speisekarte. Das Geld würde nur für ein großes Bier reichen. Er las trotzdem, was die Almhütte an Speisen bot. Die Aussicht, Spaghetti mit Chili und Knoblauch zu essen, ließ Brinker fast verrückt werden. Aber er würde es nicht bezahlen können. Er sah sich um. Neben ihm machten sich zwei italienische Familien über Kaninchenbraten und Polenta her. Vielleicht könnte er die Reste essen.
Es dauerte lange, bis sich die Bedienung an seinen Tisch stellte. Die junge Frau sagte nichts, schaute Brinker nur entgegenkommend an. Er bat um ein großes Bier. Die Frau nickte und wandte sich wieder ab. Brinker beobachtete, wie sie auf dem Weg ins Haus etliche schmutzige Teller einsammelte. Er wünschte sich, dass jemand ein Lied für ihn sänge. In der Ferne sah er die Berglandschaft, die er an diesem Tag durchwandert hatte. Er hätte so gern ein Zigarillo geraucht, aber dafür hatte er schon lange kein Geld mehr. Eine andere Frau brachte ihm das Bier. Sie sah aus wie die Mutter derjenigen, die die Bestellung aufgenommen hatte.
„Möchten Sie auch was essen?“ fragte sie.
„Ja, gern, aber ich habe nicht genug Geld.“
Die Frau, die ihn erst nur flüchtig angesehen hatte, blickte ihn jetzt unverwandt an: „Wirklich nicht?“
Brinker fand die Nachfrage absurd, er lachte, „nein!“
„Dann kommen Sie noch mal vorbei und bezahlen dann.“
„Das ist nett, aber ehrlich gesagt werde ich vorerst kein Geld haben.“
„Was würden Sie denn gern essen?“
„Spaghetti mit Chili und Knoblauch.“
Jetzt lachte die Frau: „Wir tun auch etwas frische Petersilie dazu.“
„Was soll ich dazu sagen? Sie lassen mir das Herz bluten!“ Brinker verlor die Orientierung.
„Würden Sie fürs Essen auch arbeiten?“
Er nickte, gleich küsse ich sie, schoss es Brinker in den Sinn, sie deutet ein Wunder an, etwas woran ich bis gerade eben nicht gedacht habe.
„Okay“, sagte die Frau und ging in die Hütte.
Durst, dachte Brinker und stürzte das Bier hinunter. Seine Kehle schmerzte vor Kälte, ein Glücksgefühl, fand er. Brinker nahm das nasse T-Shirt und das feuchte Hemd und breitete beides auf der Holzbank zum Trocknen aus. Er wartete.

Christoph Baumanns
7. April 2006

 


mein lied

auf verschlossenen gittern male ich
geräusche ein stillleben aus klängen
oktaventief begleitet die lüftung
im untergrund
unkontrollierbar die folge
ein tritonus wäre die rettung

Ulrike Bail
13. April 2006

 

 

Rettung am Abend

Joachim Speiser hebt seinen Blick nicht, als er das Podium betritt. Er geht direkt zum Klavier. Ohne seine Jacke auszuziehen setzt er sich auf den Schemel und öffnet geräuschlos den Tastendeckel. Wie jeden Tag seit drei Wochen beginnt er sein Spiel pünktlich um 18 Uhr mit einer der zweistimmigen Inventionen von Johann Sebastian Bach. Die meisten der wenigen Gäste, die um diese Uhrzeit in der Kneipe sitzen, sehen erstaunt auf, eine solche Musik haben sie nicht erwartet. Es gibt aber schon einige unter ihnen, die allein wegen der Klaviermusik ins Podium gekommen sind.

Speiser ist so verdammt froh über diesen Job. Er hat zwanzig Jahre keine vernünftige Arbeit mehr gehabt, geschweige denn in seinem Beruf gearbeitet, und war eines Abends versoffen und vereinsamt ins Podium geraten, wo ihm weder die Kellnerin noch der Wirt selbst ein Bier geben wollten. Er war kurz davor, böse zu werden, als er das Klavier entdeckte. Speiser hätte nicht sagen können, was ihn trieb, vielleicht die unsägliche Lust auf ein Bier, das er sich mit dieser Aktion zu verdienen hoffte. Vielleicht trieb ihn aber auch einfach nur sein Leid. Ohne die Jacke auszuziehen setzte er sich auf den Schemel und öffnete geräuschlos den Tastendeckel. Als erstes kam ihm eine zweistimmige Invention Bachs in den Sinn und er spielte sie. In den letzten Takten machte er einen Fehler, aber das war, als hätte die hunderttausendste Welle endlich das Totholz weggerissen und dem Fluss seine ungehinderte Strömung wiedergegeben.
„Ich brauch‘ nur so eine Musik zu hören, und schon ist der Tag gerettet.“ sagte die Kellnerin und stellte Speiser eine dampfende Tasse Kaffee oben aufs Klavier. Speiser stockte der Atem. „Bitte spielen Sie weiter, bitte!“ sagte die Frau und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Seit langer Zeit ist mir kein Mensch mehr so nahe gekommen, dachte Joachim Speiser. „Sie spielen so unglaublich wunderschön! Warum sind Sie nicht Konzertpianist geworden?“ hatte vor einundzwanzig Jahren ein einziges Mal ein Schüler den Mut gehabt, ihn persönlich anzusprechen, und damit seine Finger in Speisers unheilbare Wunde gelegt. „Ich mache immer einen großen Fehler“, antwortete er in diesem nicht mehr zu kontrollierenden Augenblick. „Kein Konzert gelingt mir fehlerlos. Wenn du erträgst, das zu hören, dann komm nächsten Freitagabend in die Aula des Gymnasiums.“ Der Schüler kam und wie immer: Speiser verspielte sich unüberhörbar. „Sie haben ja wirklich einen dicken Patzer gemacht“, sagte der Schüler nach dem Konzert, und Tränen standen ihm dabei in den Augen, „aber trotzdem: Wenn ich Ihr Klavierspiel höre, dann muss ich immer denken, dass es sich allein dafür lohnt, auf der Welt zu sein.“ Speiser zählte früher oder später nicht mehr mit, wie oft ihm die Erinnerung an diesen Satz das Leben rettete. Dennoch gab er irgendwann keine Konzerte mehr und unterrichtete nur noch, in dem er den Schülern weit über die vereinbarte Unterrichtsstunde hinaus Stücke vorspielte, die sie selbst nie würden spielen können; und er am Ende ja auch nicht, denn er spielte niemals ganz fehlerfrei. Dann kamen ihm die Schüler abhanden, dann auch noch zwanzig Jahre seines Lebens.

Bis heute. Jeden Tag spielt Joachim Speiser von 18 Uhr bis Sperrstunde im Podium, was er selbst und das alte Klavier noch hergeben. Am liebsten spielt Speiser die Musik, über die sich die Gäste des Podiums unterhalten. Auf diese Gesprächsfetzen ist Speiser ganz wild, wenn er während seiner Pausen an den Tischen entlang geht. Manchmal ist da die Rede von Musik, von der er dann vermutet, dass sie ein gerettetes Menschenleben bedeutet. Denn schließlich ist ein solches auch das von Joachim Speiser.

Christoph Baumanns
10. Mai 2006

 



strömung

bei den flusskrebsen
jenen die hinter der nackenfurche unbedornt
wohnt sie auf kiesigem grund
ins sommerkalte wasser streut sie
zugfahrkarten kirchturmspitzen lebensläufe
und hin und wieder eine nacht
es war ihr ganz nebenbei
das leben abhanden gekommen

Ulrike Bail
19. Juni 2006

 

 

in Fluss

Van Gaan verbringt die Mittagspause am liebsten damit spazierzugehen. Er verlässt sein Büro, ohne es abzuschließen und ohne die Anrufumleitung einzuschalten. Vielleicht komme ich heute gar nicht wieder, denkt er jedesmal, wenn er aus dem Haus geht.

Van Gaan macht immer denselben Gang. In der Nähe seines Büros gibt es eine kleine Gartenkolonie. Er durchquert sie und trifft auf den Schotterweg, der am Ohdebach entlangführt. Der Ohdebach entspringt dem Blauen See am östlichen Hang des Falkenwaldes, fließt in der Nähe des Freibads in die Stadt hinein, plätschert an den Kleingärten vorbei, taucht wiederholt unter Stadtteilen hinweg, hält sie so am Leben, taucht wieder auf, immer dann mit neuem Namen, und mündet schließlich am alten Schlachthof in die Ahnen. Der Wasserlauf vom Blauen See bis zum alten Schlachthof ist eines der Bilder, mit denen sich Van Gaan seine Stadt ausmalt. Er folgt dem Bach Richtung Bahndamm und geht an der steinernen Bachrinne entlang durch den niedrigen Tunnel. Danach biegt der Weg vom Bach weg. Aber Van Gaan bleibt am Wasser und nimmt den Pfad flussabwarts durch eine verwilderte Gegend bis zu den Betonsteinen, die den Bachlauf beidseitig schmälern und über die Van Gaan springend die Seite wechselt, dann bachaufwärts zurück zur Unterführung und an den Schrebergärten vorbei wieder zum Büro; ein Spaziergang durch Licht und Schatten, in wechselnd klarer und feuchter Luft; gut fünfundzwanzig Minuten, die Van Gaan unterwegs ist.

An jenem Tag war das Kiosk überfallen worden, in dem so einer wie Van Gaan immer ein freundliches Wort verliert und von der Verkäuferin mit dem Eulengesicht mindestens zwei zurückbekommt. Van Gaan stöhnte auf, ein unwillkürliches Seufzen, das ihm entfährt, wenn er aus lauter Not nicht mehr weiß, was er über die Welt denken soll. Der schmale Pfad, der von hohen Brennnesseln dicht gesäumt war, nahm Van Gaan auf und lenkte seine Schritte in mehreren Schleifen an den Rand des Baches und wieder von ihm weg. Er verfolgte mit seinem Blick die leichte Strömung, glaubte, er hätte im Wasser eine Geldbörse erkannt. Ein paar Meter weiter spannten sich Gräser wie Mobiles über den Ohdebach. Papierschnipsel flossen vorbei, so dass Van Gaan aufschaute, ob er jemanden entdecken konnte, der sie hineingestreut hatte. Aber er schien in dieser verwilderten Gegend allein zu sein. Die alten Bäume stellte sich Van Gaan als Wächter vor, denen nichts entging, die aber auch nichts verhindern konnten. Goldwäscher ist wahrscheinlich ein schöner Beruf, kam ihm in den Sinn, als er auf dem Grund des Baches Steine glitzern sah. Er musste aufpassen, dass die Brennnesseln nicht an seine Hände schlugen. An manchen Stellen konnte er sehen, wie hoch der Ohdebach nach dem letzten Unwetter gestiegen war. Die Uferpflanzen waren in der Schieflage erstarrt, in die die Strömung sie niedergedrückt hatte. In einer der übriggebliebenen tiefen Wasserstellen trieb ein Chihuahua sanft hin und her. Van Gaan stöhnte auf. Er ging keinen Schritt näher, beugte sich aber vor und betrachtete andächtig den kleinen toten Hund, der wie aus Scham, dass er nicht aufgepasst, als die Flut gekommen, seinen Kopf abgewandt und seinen Blick gesenkt hatte. Nur die großen Ohren wirkten noch so, als würden sie nicht aufgeben, nach dem Leben zu horchen. Ein paar schwarze Käfer krochen flink über das kurzhaarige Fell, aus dem das fließende Wasser fast alle Farbe gewaschen hatte. Er trägt schon sein Totenhemd, dachte Van Gaan. Gern hätte er den Chihuahua gestreichelt und ihm zugeflüstert, dass alles halb so schlimm sei, aber er traute sich nicht. Plötzlich hatte Van Gaan das Gefühl, er dürfe an diesem Ort nicht länger bleiben. Ein letzter Blick auf den Hund, dann wandte sich Van Gaan traurig ab und kehrte auf dem üblichen Weg in sein Büro zurück, allerdings langsamer als sonst.

Am nächsten Mittag ging Van Gaan wieder spazieren, die Hände zitterten ihm vor Erwartung. Der Chihuahua war nicht mehr da, "aufgefahren in den Himmel, von dort wird er wiederkommen", erinnerte sich Van Gaan an ein Gebet seiner Kinderzeit. Er glaubte nicht daran und wünschte doch, es würde genau so geschehen. 

Christoph Baumanns
1. September 2006

 



an diesem ort

der blick geht hinaus
über die dächer hinweg
streicht den horizont entlang
zurück ins zimmer
im winkel lehnen kaputte stelzen
ein lungenflügel schlägt
getroffen pendelt ein herz sich aus

Ulrike Bail
1. Oktober 2006

 

 

Zurück ins Zimmer

Wenn frühmorgens im Wald die Jäger klingeln und reden
Wenn ein Traum auf der Straße liegt
Wenn die Gottesmutter Frühstück macht

Zurück ins Zimmer

Wenn zu Mittag ein Vogel gegen das Blumenfenster fliegt
Wenn die Suppe vom Vortag sauer ist
Wenn man jetzt nicht barfuß gehen kann

Zurück ins Zimmer

Wenn am Abend niemand, der Hunger hat, um Einlass bittet
Wenn jedwedes Licht ohne Anziehungskraft und keine Uhr stehengeblieben ist
Wenn mehr als 1 Buch neben dem Bett liegt

Zurück ins Zimmer

Wenn du bis Mitternacht keine Hasen siehst
Aber tief in der Nacht fliegende Fische bezeugst
Dich bei Tagesanbruch ein Schamgefühl aus dem Schlaf holt
Du dich sorgsam mit Honig wäschst
Und wieder ein Traum auf der Straße liegt

Vielleicht vielleicht nicht
 

Christoph Baumanns
15. Oktober 2006

 



drinnen

drinnen
webt sich staub in die luft
eine abendlandschaft verblasst
verwischtes vogelzwischern
am fensterbrett krallt sich
der vorhang fest

du schickst den gelben reiter fort
auf dass die raben ihn nicht finden

Ulrike Bail
7. November 2006

 

 

Am Fenster

Er nahm den Borsalino von der Garderobenablage, setzte ihn auf, ließ die Jacke aber hängen. So kalt würde es nicht sein. Er würde sowieso nur kurz draußen nach dem Rechten sehen, vielleicht ein paar Kleinigleiten einkaufen, Zutaten für die sämige Erbsensuppe mit Einlage, die sein Einkel so gern isst. Joseph hatte bestimmt Hunger. Er saß schon den ganzen Vormittag allein im kleinen Wohnzimmer und spielte mit der alten Lego-Eisenbahn. Langsam, zitternd, mit dem Gehstock den Teppichboden abklopfend, drehte sich Richard Lenger Schritt für Schritt von der Garderobe weg. Er nahm dann seinen Pfad durch das große Wohnzimmer und blieb schließlich vor dem großflächigen Fenster stehen, an dem seit den frühen Morgenstunden die milchscheibige Gardine auf die Hälfte zurückgezogen war. Lenger beobachtete aus seiner Wohnung im Hochparterre, wie Menschen und Fahrzeuge aus allen Himmelsrichtungen kamen und die Kreuzung, die vor dem Haus lag, überquerten.
„Opa, ich habe Hunger!“ rief Joseph aus dem Nachbarzimmer.
„Ich ahnte das schon.“ murmelte Richard. Er schlug mit dem gummierten Ende seines Gehstocks immer wieder heftig auf den Tepichboden. Lenger genoss den Widerspruch zwischen der so lichtscharf abgegrenzten Kraft, die er selbst auf seine alten Tage hin mühelos im rechten Arm entfachen konnte, und dem dumpfen Schlag, den sie verursachte.
Lenger fixierte mit seinem verlebten Blick einen Passanten, der gerade am Fenster vorbeiging. „Du kommst hier nicht vorbei!“ zischte Lenger gegen die Scheibe, und wahrhaftig, der Fußgänger blieb ruckartig stehen, sah entsetzt an sich herunter und wandte sich fluchtartig in die entgegengesetzte Richtung. Bei einem alten Mann wollte Lenger das Zischen und Schlagen fast nicht gelingen. Als er merkte, dass der Spaziergänger vor seinem Fenster in Tränen ausbrach, verzog sich Lengers Mund zu einem schiefen Lächeln. Dabei traten ihm selbst die Tränen in die Augen. Dann sah er, wie eine Frau auf seinen Spruch und seinen Stockschlag hin stehenblieb und sich erst die Jacke, anschließend den Pullover auszog. Lenger kopfte wie wild an die Scheibe. Die Frau starrte Lenger an, dann den Pullover in ihren Händen. Sie rannte davon, ließ ihre Jacke auf dem Bürgersteig liegen.
„Opa, ich habe Hunger!“
Richard zuckte heftig zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, wie Joseph das Zimmer gewechselt und sich neben ihn gestellt hatte. Vor Wut darüber, so überrascht worden zu sein, hätte er das Kind am liebsten geschlagen. Aber er zischte nur „Du kommst hier nicht vorbei!“ und schlug mit dem Stock auf den Boden.
„Da kommt doch niemand vorbei!“ sagte Joseph und ergriff mit seiner rechten Hand die linke seines Großvaters.
Die beiden beobachteten eine Zeit lang die Kreuzung, ohne ein Wort zu wechseln.
Schließlich sagte Richard: „Weißt du, was ich mir wünsche?“
Joseph zögerte mit der Antwort keine Sekunde: „Wenn der Tisch festlich gedeckt ist, mit goldrandigen Tellern und Gläsern, mit silbernem Besteck, mit weißen Servietten, weißen Leuchtern, weißen Kerzen, und alles Porzellan und Glas ist verschwenderisch gefüllt mit Gerichten und Getränken in schreienden Farben. Und am Tisch sitzen Oma und all meine bescheuerten Onkel und Tanten und auch mein verrückter Papa. Und dann stehst du auf, denn du bist der Herr des Tisches. Und dann reisst du mit deiner starken rechten Hand, die an dem noch stärkeren rechten Arm, mit einem einzigen Ruck die Decke vom Tisch, mit allem, was sich darauf an Festem und Flüssigem befindet. Und das macht einen Lärm, noch lauter, glaube ich, sind die schreienden Farben, aber am allerlautesten bist du, mein Großbater. Und du brüllst: „Was seid ihr doch alles für Arschlöcher!“
„Das ist dein Wunsch, Joseph, nicht meiner“, erwiderte Richard, ohne seinen Blick von der Kreuzung zu wenden. Deshalb bekam er auch nicht mit, dass Joseph nickte. „Wann hast du dir das denn ausgedacht?“ fragte Ricjard seinen Enkel.
„Eben als ich Hunger hatte.“ antwortete Joseph und sah zu seinem Großvater auf.
Der nickte zurück. „Meine Frau ist tot, Joseph. Schon viele Jahre.“
„Entschuldigung, Opa!“ Ich kann mir einfach nicht merken, dass jemand gestorben ist.“
„Mein Sohn Emil ist auch tot.“
Joseph nickte erneut, „jetzt fällt es mir wieder ein.“
„Cornelia, meine Tochter, auch.“
„Du hast recht, Opa.“
„Und Heinrich, mein Ältester, ist in der Irrenanstalt.“
„Ich dachte nicht an ihn, Großvater.“
„Und meine Jüngste, Käthe, die isst doch schon lange nichts anderes mehr als trocken Brot.“
„Das, Opa, wusste ich nicht.“
„Sich etwas wünschen, wenn man Hunger hat, ist gefährlich, Joseph.“
„Ist dein Wunsch auch gefährlich, Großvater?“
Der alte Lenger zuckte mit den Schultern.
„Was wünscht du dir denn, Opa? Bitte sage es mir!“
„Einmal möchte ich erleben, dass jemand vor diesem verdammten Fenster wie von selbst stehenbleibt, sich plötzlich nicht mehr bewegen kann, weder vorwärts- noch rückwärts weiterkommt. Und wie ich dann mit meinem Stock gegen den Boden stoße, mit wirklich ungeheurer Kraft gegen den Boden stoße, und zische ‚Du kommst hier vorbei!‘ Und dass dieser Mensch dann tatsächlich, allein meiner Worte wegen, dank meiner Kraft, aus seiner Erstarrung gerettet wird und weitergehen kann. Nichts sehnlicher wünsche ich mir.“
„Aber Opa, vor diesem Fenster bleibt niemand stehen. Zumindest nicht, solange du hier stehst und alle beobachtest, die vorbeikommen.“
„Es ist gut, dass du bei mir bist, Joseph.“
„Ich will nie müde werden, das Gute zu tun, Opa.“
Ohne den Blick von der Straße abzuwenden, legte Richard seine Hand auf dem Kopf seines Enkels. Am liebsten würde ich ihn segnen, dachte Lenger und fuhr dem Jungen durch das weiche Haar. „Wie alt bin ich eigentlich?“ rief Lenger gegen die Fensterscheibe.
„89, Opa, du bist 89 Jahre alt.“ Josephs Antwort klang, als sänge er sie.
„Dann muss mich DER da oben wohl vergessen haben.“
„Der liebe Gott vergisst niemanden, Opa.“
Der 89-Jährige wusste, dass es zwecklos war, sich zu diesem Punkt auf eine Diskussion mit seinem zwölfjährigen Enkel einzulassen: „So soll es wohl sein.“
„Opa, ich habe Hunger.“
„Und was wünscht du dir?“
 

Christoph Baumanns
20. Dezember 2006

 



entgegengesetzt

kalt hängt der abend
im wind
rissig und roh
straßenfluchten wie taubenflügel
obdachlos in unversperrter luft
ein starren verfängt sich im haar
kratzt und gräbt sich unter die haut
gehwege brechen auf

Ulrike Bail
8. Januar 2007

 

 

Der Weg durch den Wald

Eben noch, als lautlose Erinnerung an den Mittagsschlaf, spürte sie den Kuss ihrer Liebsten zwischen den Schulterblättern, da traf es sie von vorn wie ein Schlag, wie einer dieser dunklen Schläge, die mit einem so tiefen Ton heranrollen, dass man ihn nicht hört, nur seine Schallwellen spürt, kaum spürt, schon ist man getroffen, in den Grundfesten erschüttert, so traf es Elisabeth Thören auf ihrem Weg durch den Wald. Sie zitterte leicht und für einen kurzen Moment wurde ihr Nacht vor Augen.
Flüchtige Gedanken, die sie so sehr liebte, riefen sich ihr ins Gedächnis: dass sie, was sie an Wochentagen sonst nie tat, den Hund ins Auto geladen hatte und die zehn Minuten bis zum Waldrand unterhalb des Hühnerbergs gefahren war, um dort spazieren zu gehen; dass sie schon zu Anfang des ihr bekannten Weges auf einen Sprung gedacht hatte, etwas an diesem Nachmittag ist anders als sonst.
Elisabeth riss die Augen auf und gab dem Gefühl nach, dass die Bäume ihre Blicke auf sich lenkten. Sie sah deutlich, wie die Bäume sich alle leicht, ganz leicht in eine Richtung neigten. Osten, sie neigen sich alle nach Osten, dachte Elisabeth und wandte ihr Gesicht in die gleiche Richtung, erkannte nichts, aber wurde das Gefühl nicht los, sie sei da in etwas hineingeraten, das nicht für sie bestimmt. Als stünde sie inmitten eines unbestuhlten Kirchenraums, rings um sich ungezählte Bäume wie Gottesdienstteilnehmer, die alle zu einem fernen Altar schauten. Mitfühlend ging Elisabeth durch ihre Reihen, aufmerksam von einem zur anderen, um in ihren Mienen zu erkennen, zu wem sie beteten, an wen sie glaubten, wer ihr Schöpfer sei, aber sie erkannte nichts, die Bäume verrieten ihr nichts außer, dass sie sich alle leicht nach Osten neigten. In entgegengesetzte Richtung folgte Elisabeth dem Weg durch den Wald. Von irgendwoher kam ihr Hund angetrabt, fast hätte sie ihn vergessen. Sie sah ihn an. Er erwiderte kurz ihren Blick, wie so oft als wüsste er mehr als sie und wollte damit nicht prahlen. Immer wieder schaute sie sich um, ob sich irgendetwas an der Haltung der Bäume änderte, beobachtete einzelne von ihnen minutenlang, vielleicht verrieten sie doch etwas, riss ihr Gesicht plötzlich nach Osten in der Hoffnung, einen Blick auf etwas zu werfen, das die Situation erklärt.
Elisabeth Thören gab erst auf, als sie von dem Gefühl überwältigt wurde, dass nicht mehr sie die Bäume, sondern die Bäume sie beobachteten, jeden ihrer Schritte, jeden ihrer Blicke, jeden ihrer Gedanken: Es ist ein Versehen, dass ich auf das Beten der Bäume aufmerksam wurde, was heißt hier schon Beten, die Bäume werden einfach warten, bis ich den Wald wieder verlassen habe, ehe sie mit dem, was sie taten, fortfahren, was heißt hier schon Tun. Eine lächelnde Geduld erfüllte den Wald.
„Es gibt Momente, da wäre ich lieber etwas anderes als ein Mensch“, sagte Elisabeth Thören am Abend zu ihrer Liebsten und spürte ein Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Kurz vor dem Einschlafen dachte sie: Nachts durch den Wald, da hätte ich Angst.

Die nächsten Tage waren fürchterlich. Elisabeth Thören hatte alle Mühe, sich auf ihre Büroarbeit zu konzentrieren, obwohl ihr der Sekretärinnenjob nicht allzuviel abverlangte. Immer wenn ihr Chef sie rief, dachte sie, lieber sollen mich die Bäume rufen, lieber doch nicht. Auch erinnerte sie sich daran, dass sie nach dem Abitur eigentlich Musik studieren wollte, um Komponistin zu werden, Komponistin, darüber musste sie heute selbst lachen.

Erst vier Tage später traute sich Elisabeth Thören wieder in den Wald am Hühnerberg. Ihr Hund freute sich unbändig und tollte zwischen den Bäumen herum. Aber Elisabeth schlich, solange sie es aushalten konnte, mit angehaltenem Atem durch den Wald. Sie entspannte sich erst, als ihr bewusst wurde, dass sich kein einziger Baum nach Osten neigte. Dann entdeckte sie an einem Baum in der Nähe eines Findlings eine Gummimaske. Jemand musste diese Mischung aus Kinderspielzeug und Horrorwesen in Augenhöhe an den Stamm gehängt haben. Elisabeth hätte schwören können, dass es die Maske vorher dort nicht gegeben hat. Seltsamerweise hatte sie keine Angst. Irgendetwas gab ihr das Gefühl, dass ihr hier schon nichts passieren würde.

Einen Tag später, es war sehr stürmisch, hing die Maske an einem anderen Baum. Elisabeth Thören lachte. Sie breitete die Arme aus, stellte sich vor, sie wäre ein Baum und der Wind umtoste sie. In diesem Moment wäre sie nichts lieber als nackt gewesen, aber sie traute sich nicht, sich auszuziehen. Sie hörte zum ersten Mal, dass der Wind im Wald leise war und laut war, aber seine Lautstärke nicht wirklich zwischen leise und laut steigern konnte. Es war ein deutlich wahrnehmbarer Sprung zwischen dem durch die Äste Rauschen und dem dunklen Dröhnen, mit dem sich der Sturm des ganzen Waldes bemächtigte und seine Weisen erklingen ließ. Elisabeth stand da wie vom Donner gerührt. Sie sah die Bäume wie die Sängerinnen und Sänger eines Chors, vor allem eine Sängerin hatte es Elisabeth angetan. Sie konnte sehen, wie die Musik in der Frau geboren wurde. Der Körper erzitterte, neigte sich zur Seite, die Brust hob und senkte sich, die Sängerin zog die Augenbrauen hoch, ihre Augen wurden größer und größer, ihr sich öffnender Mund dunkler und dunkler. Dann hob sie zu singen an, es war tatsächlich ein Heben. Elisabeth verliebte sich.

Schrecken und Erleichterung für Elisabeth Thören: Am nächsten Tag war die Maske weg. Auf einem Baumstumpf in der Nähe aber lag ein abgeschnittenes, handbreitgroßes Stück Brot und eine Erdnuss wie Opfergaben auf einem Altar. Es war immer noch sehr stürmisch, aber Brot und Nuss lagen unbewegt, wie Lesende inmitten eines Menschenauflaufs. Der Hund, der sich bei Sturm im Haus ängstlich verkroch, jagte wie befreit mit den Windstößen durch den Wald. Elisabeth verfolgte ihn mit seinen Blicken, pfiff ihn zurück, wenn er nicht mehr zu sehen war. Ein ungewohnter Bildwechsel: Bäume mit Hund, Bäume ohne Hund. Eine alte Frau, mit einer ledernen Handtasche am linken Unterarm, kam ihr entgegen. Thören erschrak, war es Gleichgültigkeit, war es Hass im Gesicht der anderen? Ohne die Bäume würde ich mich fürchten, ohne Hund aber auch, dachte Elisabeth und rief das Tier. Aus der Ferne sahen die vom Sturm geborstenen und kronenlosen Birkenstämme wie Kopfskulpturen fremdartiger Wesen aus oder, für Elisabeth schöner noch, wie auf den Bruchstellen ruhende Eulen, die es bis Athen einfach nicht schaffen würden.

Von nun an ging Elisabeth jeden Tag durch den Wald unterhalb des Hühnerbergs. Einmal machte Thören ihren Gang in der Abenddämmerung. Das Stück Brot und die Erdnuss waren vom Baumstumpf verschwunden. Zwischen den Bäumen flackerten die Lichter der Stadt wie die ewigen Lichter auf einem entfernt liegenden Friedhof. Diesmal begegnete sie einem älteren Mann, der eine Jutetasche in Händen hielt. Doch hatte Elisabeth Thören jetzt weniger Angst. Die Bäume umgaben sie, daran zweifelte sie nicht. Sie grüßte den Mann. In der einbrechenden Dunkelheit wich ihr der Hund nicht mehr von der Seite. Jetzt möchte ich auch einmal nachts hier sein, seufzte Elisabeth.

Ein andermal trug sie ihr Gesicht morgens in den Wald, das jedenfalls war ihr Gefühl. Sie hatte es in der Frühe groß und rund im Spiegel gesehen, ein naher Vollmond, verkniffene Augen in grauen Kratern. Schon als Kind hatte sie ganz kleine Augen gehabt, so klein, dass viele Elisabeth für blind hielten. Aber das war sie nicht. Doch spielte sie damit. Menschen gegenüber, die Elisabeth Thören noch nicht kannten, tat sie so, als wäre sie blind. Viele waren völlig beeindruckt, dass sie sich ohne anzustoßen zwischen ihnen bewegen konnte. „Ich höre sehr gut“, sagte sie dann und lachte. An diesem Morgen spielte sie das Blinde-Elisabeth-Spiel mit den Bäumen, so sicher fühlte sie sich. Doch die Bäume zeigten sich unbeeindruckt und neigten sich auch nicht nach Osten. Aber es ließ sich im abziehenden Morgendunst der alte König der Bäume blicken, ein gewaltiger abgestorbener Stamm, der in Kopfhöhe vier mächtige Äste und weiter hinauf eine riesige Krone ausgebildet hatte und jetzt im Frühjahr dastand wie ein dunkelglänzender Ritter, der von längst vergangenen Zeiten träumte und alle anwies, es ihm gleich zu tun. An diesem Morgen wollte Elisabeth immer tiefer in den Wald, früh am Tag war die Tiefe des Waldes verlockender als zu anderen Stunden. Fliehende Rehe durchbrachen den Zauber. Der Hund sah ihnen länger nach als Elisabeth. Sie hatte sich mit einem Mal Richtung Osten gewandt und leicht nach vorne geneigt. Sie hörte die Bäume singen, sie glaubte es fast nicht, aber sie hörte tatsächlich die Bäume singen. Was für ein Glück, dachte sie erschüttert, aber was heißt hier schon Glück.
 

Christoph Baumanns
8. Februar 2007

 



was heißt hier schon glück

dunkel geworfene wälder
dem waldboden entrissen der himmel
windwurf ungeräumt
das totholz träumt vom salamander

Ulrike Bail
28. März 2007

 

 

Totholz & Salamander

"Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts."
Ingeborg Bachmann
 

 

Es war nach Sonnenuntergang. Die Betreuer führten die Kinder an den Rand des schwarzdunkel hingeworfenen Waldes und schickten sie im Abstand von zehn Minuten einzeln hinein. Die Betreuer feixten: "Nichts Schlimmes. Nur eine kleine Mutprobe. Den Weg könnt ihr nicht verfehlen."

Der zwölfjährige Tim hätte sich am liebsten geweigert: Ich habe Angst allein im Dunkeln, allein im Wald. Ich kann doch alles sehen: die Eule und den Salamander, den Wind und die Stimmen, die Alten und die Toten; vor diesen vor allem muss man sich im Wald fernhalten, denn sie tun nichts lieber als mit ihren kalten Zungen Kinderohren auslecken. Tim wusste, dass die Betreuer von all dem nicht den blassesten Schimmer hatten. Sie kamen ihm vor wie die grobschlächtigen Raubritter, von denen er in Schwabs Heldensagen gelesen hatte: Sie halten sich an kein Recht und haben großen Spaß daran, andere zu quälen. Wie aber sollte er Raubrittern entgegentreten und ihnen sagen: "Ich gehe nicht in den Wald!" Sie hätten ihn nur böse ausgelacht.

Tim blieb stumm, als die Betreuer ihm sagten, er wäre jetzt an der Reihe. Voller Furcht betrat er den dunklen Wald. Er hasste sich für seine Angst. Er wusste, dass ihn auf dem Weg große Schrecken erwarteten. Er verbiss sich für eine kurze Strecke in den alles überstrahlenden Wunsch, ein mächtiger Zauberer zu sein. Aber ein Zauberer schleicht nicht mit weit aufgerissenen Augen durch den Wald, stiehlt sich nicht von Baum zu Baum mit roten Ohren, die hin- und herruckend jedes nur erdenkliche Geräusch orten. Tim konnte keinen Schritt weiter tun. Dann sah er einen Salamander und fasste sich wieder.

Etliche Meter weiter lag ein Menschenschädel auf dem Totholz am Wegesrand. Da Tim mit dem Schrecklichsten gerechnet hatte, lachte er beim Anblick der schlechten Plastikimitation auf: Die echten Toten, die von den Lebenden nicht lassen können, sind unvergleichlich grauenerregender, wie Großvater Heiner, der oft im Keller auf seinen Enkel wartet, um mit ihm Leben zu spielen. An solche Tote trauten sich die Betreuer nicht heran.

Ein paar hundert Meter weiter hatten sie hinter einem Baum eine Vogelscheuche mit Hut aufgestellt. Zwei Kerzen standen daneben und brannten stark tropfend wie im Durchzug einer Kirche. Als wäre die Scheuche eine heilige Figur. Tim hielt die Luft an und konnte erst ausatmen, als er sicher war, dass sich in dem Strohmann kein lebendes Wesen verbarg.

Er ging rasch weiter. Der Weg wurde schmaler, eine Tannenschonung folgte dem Mischwald. Aus dem Dickicht hörte Tim Stimmen. Er duckte sich. Stimmen hören war für ihn fast das Fürchterlichste. Denn beinahe immer konnte er erkennen, wirklich erkennen, von wem, egal von wem die Stimmen kamen. Durch tausend Zweige hindurch sah er, wie sich drei Betreuer langsam durch die Schonung bewegten, dabei die jungen Tannen schüttelten und zugleich heulten wie Wölfe oder Geister oder Versager. Unter ihnen entdeckte er den Betreuer mit dem schwarzen Lockenkopf, den er in den letzten Tagen liebgewonnen hatte. Dass der so etwas mitmachte, hätte Tim nie für möglich gehalten.

Tim kroch auf allen Vieren weiter, stand am Ende der Schonung wieder auf, und hastete, sich ständig umsehend, durch ein Waldstück voller Fichten. Zwei Bäume standen so dicht rechts und links des Weges, dass sie eine Pforte bildeten. Vielleicht ist die Mutprobe dahinter ja zu Ende, dachte Tim noch und durchschritt die Enge mit schier freudiger Erwartung, als schon von beiden Seiten Hände nach ihm griffen und hämisches Lachen ertönte. Tim schrie. Die fremden Finger bohrten sich ihm schmerzhaft in Schultern und Arme. Tränen schossen ihm aus den Augen, sein Oberkörper bog sich nach vorn. Tim strauchelte vor unbändigem Schrecken.

Noch im Sturz begann er zu rennen. Seine Beine trommelten ihm Gesicht und Hände von der groben Erde des Waldwegs weg. Keine Schrunden zeichneten deshalb seine Haut, als Tim über Stock und Stein davonrannte. Am liebsten wäre er gestürzt, am liebsten hätte er sein Blut gesehen. Es hätte dem Ganzen vielleicht Einhalt geboten, doch für Tim gab es kein Halten mehr, er ging durch.

Ein Baumstamm lag quer über dem Weg. Ohne jedes Zögern sprang Tim hinüber. In gleichem Atemzug entpuppte sich das umgestürzte Holz als Betreuer, der mit Armen und Beinen Tim im Sprung ergriff und auf die Erde holte. Tim schrie um sein Leben. Er schlug wild um sich, Bruchstücke von Stöcken und Steinen gruben sich in seine Haut. Tim wirbelte sich aus den Fängen des Betreuers und trat nach ihm. "Bist du bescheuert!" brüllte der. "Und ihr! Und ihr!" brüllte Tim zurück, ich wünsche euch die Toten an den Hals, würgte es stumm in ihm, brach in haltloses Schluchzen aus: "Bitte, bitte, ich flehe dich an," warf er sich dem Betreuer, der aufgestanden war, vor die Füße, "wie lange geht die Mutprobe noch? Bitte verrat mir: Wie oft soll ich noch erschreckt werden?" Der Betreuer verschwand zwischen den Bäumen und rief aus einiger Entfernung: "Geh! Geh weiter! Es ist vorbei."

Aber Tim konnte nicht weiter, keinen Schritt. Seine Gedankenwelt war völlig vernebelt, sein Inneres ein einziges Wirrwarr. Tim rief seinen Großvater. Wenigstens einer, der mit ihm Leben spielte. Dann sah Tim einen Salamander und fasste sich wieder.
 

Christoph Baumanns
9. Mai 2007

 



im sturz

scheint das herz sich
seiner selbst zu entledigen
es fällt das brustbein hinab
leuchtdioden säumen
steinschlag auf verwittertem boden
fuglos vermauert erwacht der tag

Ulrike Bail
4. Juni 2007

 

 

warten

Draußen regnet es. Es regnet schon seit Monaten.
Die Stadt stinkt nach schwerem Regen, denkt Leopold Stoff. Das hat sie vom Wald. Wie die Menschen auch. Nach kaltem Schweiß. Selbst im Winter heben sich ihre Leiber aus dem versiegelten Stein der Stadt. Stoff wartet.

Er hockt in der Mitte der Kirche auf den Steinfliesen wie Kambei Shimada, der Älteste und Erfahrenste der sieben Samurai, auf dem Boden der Bauernhütte. Stoff hat seinen überlangen Wanderstock auf den Beinen abgelegt und leicht nach oben gerichtet. Er wartet.

Ein stürmischer Wind treibt die schweren Regentropfen gegen die oberen Kirchenfenster. Er versucht herauszufinden, aus welcher Richtung der Wind kommt, vergebens. Stoff wartet.

Er kann sich nicht mehr an den Namen seiner Schwester erinnern.
Er hört eine Musik. Er summt mit. Er weint mit. Es sind trockene Tränen. Mehr geht jetzt nicht. Stoff wartet.

Er erinnert sich daran, wie seine kleine Schwester ihre Füße an seinen Bauch drückte. Sie hatten es sich gemeinsam auf dem großen Sofa gemütlich gemacht, verbotenerweise, auf dem großen Sofa im Wohnzimmer durfte man nicht liegen. Aber die Eltern waren auf einem Fest, und der Vater würde betrunken nach Hause kommen, und die Mutter würde nüchtern klagen, es sei wieder einmal viel zu spät und wie unklug, so wenig Schlaf zu bekommen, und der Vater würde antworten, er gäbe einen satten Furz auf diese Menschen-Klugheit, die auf nichts anderes starre als auf das was man zu wenig bekäme.

Die Füße der Schwester an seinem Bauch. Christine, ja so hieß seine Schwester, Christine hatte sich auf die Seite gerollt, die Beine angewinkelt und las in einem Buch. Leopold lag am anderen Ende des Sofas. drückte mit seinem Arm ihre nackten Füße gegen seinen Bauch und hielt sie mit seiner Hand bedeckt, so dass sie nicht kalt wurden. Es ist die einzige Berührung, wirkliche Berührung eines Menschen, an die er sich erinnert, und nach nichts mehr sehnt er sich hier, jetzt, in dieser Kirche, in diesem Moment, als nach den nackten Füßen seiner Schwester an seinem Bauch. Stoff lacht. Er wartet.

So wie er da mit seinem überlangen Wanderstock auf dem Steinboden der Kirche hockt, sieht es von weitem aus, als sei er aufgespießt; wie ein Pilger, der, zu erschöpft, um sich am Ende seines Weges noch aufrecht zu halten, in seinen Pilgerstab gestürzt war, eine Provokation des Herzens, das sich seiner selbst entledigen wollte. Weit gefehlt. Eine Täuschung. Stoff lebt. Er wartet.

Stoff erinnert sich an das Gesicht seiner Schwester, als sie eigentlich noch gar nicht seine Schwester, sondern erst im Begriff war, seine Schwester zu werden. Gerade war sie geboren worden. Der Vater hatte sie hergezeigt. Sie zeigte ihrem Bruder ein Lächeln, sie schenkte es ihm, ein ganz feines Lächeln, fast kein Lächeln, nur eine Andeutung und darin doch ein vollkommenes Lächeln. Stoff kannte das Lächeln. So hatte der Großvater der Geschwister gelächelt, als man ihn für jene eine Stunde im offenen Sarg zeigte, ein ganz feines Lächeln, fast kein Lächeln, nur eine Andeutung und darin doch ein vollkommenes Lächeln. Ihr Lächeln so ganz am Anfang. Sein Lächeln so ganz am Ende. Stoff wartet.

Christoph Baumanns
23. August 2007



 



erwartung

noch einmal geht der blick
hinaus aufs meer
in dem ein schwerer himmel
zwischen den wellen hängt
weiß revoltierend im wind
draußen weit draußen
erwartung
wirft möwengeschrei
verlorenes manchmal
bernstein ans land

Ulrike Bail
8 Oktober 2007

 

 

Ich warte

Ich sehe auf die See hinaus. Nach Tagen des Sturms ist sie ruhig, glatt. Ich sehe in die große Weite und warte auf nichts anderes als dass etwas passiert. Ich tue das mit großer Geduld; Geduld groß wie die Weite. Seit Jahren warte ich darauf, dass er springt. Ich blicke auf das weite Meer hinaus und hoffe in jedem Moment, dass er springt. Ja, ich lasse mich in meinem Glauben nicht beirren, dass dieser Moment kommen wird, dieser Moment, in dem er springt. Zuallererst kommt er von weit her, kommt aus Wassern, die ich wenn überhaupt nur vom Hörensagen kenne. Dann kommt er aus der Tiefe, aus der für mich tiefsten Tiefe. Sie ist lichtlos und macht mir Angst. Ihm aber nicht, ihm nicht. Er braucht das Licht nicht, um zu sehen und zu verstehen. Er braucht die Höhe nicht zu erkennen, wo er ist und was er ist. Er kommt aus der tiefsten Tiefe, steigt hinauf, steigt ohne Hast hinauf. Er liebt diese Art Langsamkeit, in der seine ganze Kraft zum Ausdruck kommt, ohne dass er vor Kraft strotzt. Denn Strotzen ist ihm zuwider. Langsam und konzentriert steigt er auf, wird leichter, gewinnt an Fahrt, nimmt die tiefste Tiefe mit hinauf, dieser Augenblick vor seinem Sprung mit der tiefsten Tiefe in die höchste Höhe ist seine einzige Sehnsucht. Wie es meine einzige Sehnsucht ist, dass er springt, dass er endlich springt. Seit Jahren warte ich darauf, dass er endlich springt. Obwohl es eigentlich idiotisch ist, denn in der Nordsee springt kein Wal. Kein Wal lebt in der Nordsee, also wird auch kein Wal aus ihrer Tiefe hinaufsteigen und springen. Es sei denn, er hat sich verirrt, hat sich in die Nordsee verirrt und wird folglich auch hier springen.

Ehrlich gesagt warte ich also auf einen Wal, der sich in die Nordsee verirrt und hier springt. Ich tue das in der Gewissheit, dass es überall auf der Erde – zu Wasser und zu Lande – Orte gibt, an die sich Lebewesen verirren. Also, warum sollte sich in die Nordsee kein Wal verirren und hier springen? Darauf wartete ich gestern, darauf warte ich heute, darauf werde ich morgen warten. Ich lasse mich in meinem Glauben nicht beirren, dass sich mein Warten lohnen wird. Ich sehe auf die Nordsee hinaus. Nach Tagen des Sturms ist sie ruhig, glatt. Seit Jahren warte ich darauf, dass er springt, und in einem Moment wird er auch springen. Manchmal schaudert es mich, wenn ich an diesen Moment denke. Denn ich weiß, dass in dem Moment, in dem der Wal springt, auch mein Herz springt, endlich, endlich ist er gesprungen, endlich, endlich hat er sich in meine Nähe verirrt, endlich, endlich ist er aus der tiefsten Tiefe aufgestiegen, an Fahrt gewinnend, voller Sehnsucht nach seinem Sprung mit der tiefsten Tiefe in die höchste Höhe, er wird mir förmlich zurufen „ich springe gleich, gleich springe ich“, und ich werde ihm antworten, zitternd am ganzen Körper, genau diesen einen Moment später: „Da springt er!“ Und auch mein Herz wird springen, das weiß ich, denn er ist gesprungen, endlich gesprungen.

Christoph Baumanns
17. Oktober 2007

 



orte

orte
an die sich 
lebewesen verirren
unterm zusammenhängenden
bewuchs des bodens
durch gräser und kräuter
botschaften der larven
griffel und wundmal
flatterzungig schwerelos
etwas wartet

Ulrike Bail
7 November 2007

 

 

Halbschlaf (alles nur halb)

Mit seinen fünfzig Jahren kommt sich Rainer manchmal vor wie ein Kind, das gerade erst zu lesen gelernt hat, und jetzt jedes Buch liest, das ihm in die Hände gerät. Am liebsten liest Rainer Heldensagen.

Wie die Sage von Robert dem Teufel, der alles vollkommen richtig machte: das Morden und das Brandschatzen, das Büßen und das Lieben, und der dann beim Guten blieb.
Oder vom Rumpelstilzchen, das, obwohl es doch Stroh zu Gold spinnen konnte und viel Mitleid hatte, so ungeschickt war, sich selbst zu verraten, und das dadurch die lebendige Seele verlor, welche ihm in glücklicher Fügung zugesagt war, und das über diesen Verlust einer solchen Raserei verfiel, dass es sich eigenhändig inmitten entzwei riss.
Oder von Valerie, die jeden Abend von ihrer Mutter vertröstet wurde und die dennoch jeden Abend wieder „Maman, Maman“, rief, „erzähl mir die Geschichte von Theodora, die sich in die Gartenlaube verirrt und sich doch nicht verirrt, denn ihre Mutter wartet dort. Aber Theodora kann sie nicht sehen, denn ihre Mutter in der Laube ist wie verwandelt, verwandelt in ein Efeublatt. Maman, Maman, erzähl schon! Und sag nicht ‚heute nicht‘. Immer sagst du ‚heute nicht‘, aber nicht heute!“
Oder vom Apotheker von Taxham, bei dem das, was ihn in einem Moment ganz und gar erfüllte – etwa die Frage, auf welcher Seite er in dem Buch „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus,“ das er nach Wochen wieder aufgeschlagen hatte, wohl stehengeblieben war –, in dem anderen Moment gleich ins Vergessen fiel, wie man manchmal so voller Dankbarkeit ist, dass man vergisst, sich zu bedanken.

Kurz und gut, es waren Sagen, die Rainer nicht ganz verstand und die ihm nicht aus dem Kopf gingen und mit denen in Gedanken und dem Buch in Händen er sich an den Rand des Bettes in einen Halbschlaf flüchtete, der ihm Träume versprach, nicht irgendwelche Träume, sondern Träume, die ihm das erklärten, was er zuvor gelesen und nicht verstanden hatte.

Wie der Traum vom alten Eremiten, der in der Kapelle eines aufgegebenen Waldfriedhofs lebt und der zu Anfang jeder Nacht auf den wenigen noch erkennbaren Gräbern Kerzen anzündet, Kerzen, die bis zum Morgen niedergebrannt sind, und der einmal während eines Nachtgangs von dem Gefühl heimgesucht wird, dass irgendetwas – irgendein Wesen – ihm auf seinem Weg folgt. Erst ist es ein Schatten in seinen alten Augenwinkeln. Dann gleitet ein weißer Fleck vor ihm über den Weg, nur über den Weg; der Fleck kommt aus dem Nichts, gleitet über den Weg, ist auch nur da zu sehen, und verschwindet wieder im Nichts. Dann spürt der alte Mann an seiner Schulter einen Flügelschlag und sieht wenig später eine Schleiereule auf eine Art über den Friedhof fliegen, als wüsste sie nicht, wohin sie gehört und wie sie von einem Ort zum anderen gelangt. Der Eremit betet für die Schleiereule, betet für alle, die sich lautlos ihrem Schicksal ergeben. Manches Mal ist die Welt so gnadenlos still, ein anderes Mal so erbärmlich still, wieder ein anderes Mal so schön still, murmelt der Alte vor sich hin und verstummt. Da ist es wieder, das Wesen, das seinen Schritten folgt. Zwischen den Bäumen hindurch sieht der Eremit die Lichter der fernen Stadt. Seine Miene wird brüchig. Auch in der Stadt sind viele Namen an Stein fixiert. Jetzt spricht er wieder, spricht Gebete.

Wie das Gebet für die, die, wenn sie nicht gestorben sind, noch leben.

Im Halbschlaf merkt Rainer, wie ihm das Buch aus den Händen gleitet. Der Knall, mit dem es auf dem Fußboden landet, lässt nicht auf sich warten.

Christoph Baumanns
23. April 2008

 



in der laube

lichtfliehend im efeu flüstern
jelängerjelieber mutabor
im leben wie im sterben
nachtfalter gelbfarbene pollen
und ein die zeit betörender duft

Ulrike Bail
30. April 2008

 

 

Fenchel

Schon als Fan seine Wohnung verlässt, glaubt er es. Als er aus dem Treppenhaus auf die Straße tritt, riecht er es. In aller Deutlichkeit. Gebratenes Fleisch. Eines das nicht so empfindlich ist gegen zu heißes und zu langes Braten, Hackfleisch eben. Der Duft führt als Kopfnote die Spur weißen Pfeffers mit sich und birgt ein Geheimnis. Das kann so nur eine: Renata. Obwohl noch früh am Morgen, es ist ein Montagmorgen, übertüncht dieser Duft von Gebratenem alles, was man sonst hätte riechen können: Autoabgase, Regenfeuchte, Hundekot, Sonntagskuchen, Lancôme Trésor – mit dem sich der Nachbar überschüttet – und konzentriert den Geruchssinn auf diese eine Wahrnehmung: Ich denk‘, ich bin im Himmel. „Ich denk‘, ich bin gestorben.“ erinnert sich Fan an einen der letzten Sätze seines Großvaters, durch Fans Besuch aus dem Schlaf gerissen: „Gerade eben noch habe ich mit meinem Bruder gesprochen und der ist lange tot.“

„Morgen!“ ruft Fan schon im Türrahmen des stets sperrangelweit geöffneten Kiosks an der Weimarer Straße, „was riecht hier nur so unglaublich?“
„Fenchel“, ruft Renata Gandhi noch aus dem Hinterzimmer, in dem sie sich eine kleine Küche eingerichtet hat. Dort rührt sie Kartoffel-, Nudel- und Bohnensalat, brät sie montags Frikadellen, mittwochs Leberkäse und freitags Koteletts, alles für ihre Kunden, von denen sich eine erkleckliche Zahl – Arbeitende, Frühverrentete, Einsame, chronisch Kranke, Alkoholiker, Arbeitslose – werktags von Renata mit Essen, Getränken und Gesprächen versorgen lässt.

„Fenchel?“
„Ja, es gab die Tage im Großhandelsmarkt italienische Bratwürste. Die waren mit Fenchel angemacht. Fand ich absolut lecker. Und was die Italiener können, das können wir ja wohl auch. Ich habe das mal mit Frikadellen ausprobiert. Erst mit Fenchelsamen, aber das war zu krümelig und zu anisig im Fleisch, dann mit der Fenchelknolle, in kleinste Würfelchen geschnitten und in Olivenöl vorsichtig weich geschmort. Ein Gedicht, Fan, das glaubst du nicht.“
„Das glaub‘ ich wohl, Renata. Ich nehme eine.“

„Und? Hast du wieder was geträumt, Fan?“
Fan nickt bedächtig.
„Erzähl schon.“
„Und unsere Abmachung?“
„Ja, ja, eine Frikadelle zusätzlich, ist schon klar. Aber nicht mehr. Deine Träume machen mich noch arm.“
„Pack mir die Frikadellen bitte ein.“

Sie heißt Gandhi, wirklich, Renata Gandhi. Das a am Ende ihres Vornamens ist ein Lesefehler des Beamten, der den Buchstaben in der Handschrift des Vaters auf dem Personenstandsformular als a und nicht als e identifizerte; keine Frage, Renata gibt’s, also keine Frage.

„Und was hast du geträumt, Fan?“
„Frag anders!“
„Was träumte dir?“
„Es war da ein einzelnes Haus, groß und dunkelgrau, auf einer Hochebene mit nur wenig Wald. In der Nähe rauschte ein Fluss. Der war die Grenze zwischen zwei Ländern. Ich war in dem Haus, wie viele andere auch. Es hatte unzählbar viele Zimmer. In einem der Räume, groß und dunkelgrau, starb ein Kind ...“
„Fan, erzähl keinen.“
„...einige in diesem Zimmer liefen schreiend raus, andere wiederum riefen nach mir ...“
„Fan, hör auf!“
„Okay.“

„Nein, mach weiter.“
„Ich ging zu dem Kind. Ich sah sofort: Das Kind starb. Ich sprach es laut aus: Das Kind stirbt.“
„Fan, doch, hör auf.“
„Okay.“

„Nein, mach doch weiter.“
„Ich hatte keine Angst, obwohl die, die in dem Zimmer geblieben waren, jetzt auch anfingen zu schreien und sich die Haare zu raufen. Das Kind war so schön, so schön, ganz hell das Gesicht, weit geöffnet die eisgrauen Augen, der Blick wanderte ins Weite, ins Endlose. Das Kind lag da, als wäre es eine Tänzerin, die mitten im Tanz ihre Bewegung unterbricht.“
„Fan hör auf!“
„Das geht jetzt nicht mehr, Renata.“
„Gottseidank.“
„Eine Stille kam vom Kind. Die Stimmen im Haus verklangen. Bis auf das Kind war alles im Raum dunkel. Ich legte meine Hände unter das Kind, hob es ein wenig hoch, hielt es Momente in der Schwebe. Da wurde ihr Körper etwas leichter. Ich schluchzte auf und mit dem Schluchzen wurde ich wach.“

„Für diesen Traum gebe ich dir noch eine Frikadelle.“
„Danke. Ich freu‘ mich schon drauf. Heute mittag mache ich sie mir warm, alle drei. Allein wie sie riechen werden!“
„Ach Fan.“

„Fan?“
Aber Fan war schon woanders.

Christoph Baumanns
9. Januar 2009

 



in der nähe rauscht ein fluss

ohne hast steigt der fluss
über die ufer ohne hast leise
gurgelnd dringt wasser ins
fundament gräbt sich mit
rostigen fingern hinauf
in steine knochen flugkörper
bis oben ein feiner riss
haarriss netzriss gewaltbruch

Ulrike Bail
3. Februar 2009

 



herzseits

herzseits der Dornwald
weit vor uns das Meer
rechterhand so viele Risse
hinter uns Muttersworte Vatersschweigen Geschwisterflucht
himmelwärts alte Versprecher
Erde von Schnee und Blumen ungerührt

nichts unterscheidet die berstenden Tage
die bösen die guten
nachts wechseln die Hasen das Feld

wenn von Liebe die Rede
was uns rettet
Fluss mit Ufern

Christoph Baumanns
3. Februar 2010

 



großvaters vermächtnis

am abend noch
hängt in der waschküche
am haken hinter der tür
das blut der tauben
den lippen entlang ist's taub
eine seele entflattert über die dächer
während an schmaler sichel
sich der atem krümmt

Ulrike Bail
21. April 2010

 



Vaters Vermächtnis

Erst viele Jahre später – es müssen über vierzig sein – fuhr es mir wie Selbstgebranntes ein, dass die Haltung, die mein Vater vor dem kopfüber aufgehängten Hasen einnahm, die stärkste Körperspannung war, die ich jemals an ihm wahrgenommen habe.
Das Tier hing in der Waschküche, mit dem Rücken zur Wand, die Hinterläufe an Haken gebunden, die nicht zu diesem Zweck in der Decke befestigt waren. Mein Vater hatte das Fell erst oberhalb der Hinterpfoten rund herum, dann Lauf für Lauf entlang bis in den Schritt aufgeschnitten, schließlich mit beiden Händen gegriffen und kräftig ruckend bis über den Kopf gezogen, so dass das Hasengesicht nicht mehr zu sehen war.
Enthäutet sind wir Lebewesen doch alle gleich; das ebenfalls die spätere Erkenntnis während des Besuchs eines Anatomiekurses, zu dem mich ein befreundeter Medizinstudent (Friede seiner Seele!) mitgenommen hatte.
Auch ich drehte meinen kindlichen Kopf so weit ich konnte nach unten. Der Hase sah aus als hätte er vergeblich versucht, seinen dünnen, durchnässten und am Reißverschluss defekten Mantel über den Kopf auszuziehen. Ich verspottete ihn nicht. An einer Stelle am Fellrand sammelte sich mit einer Langsamkeit, die meine Blicke gefangennahm, das Blut des Tieres. Die ölig wirkende Flüssigkeit tropfte in zeitlichen Abständen, deren Ende ich kaum erwarten konnte, in den großen weißen Plastikeimer, sonst ungenutzes Inventar der Waschküche.
Mein Vater nahm das Messer, das ich zu keiner anderen Gelegenheit in seinen Händen gesehen habe, und schnitt die Bauchdecke des Hasen vom Schambein bis zum Brustbein auf. Das bloßgelegte, dunkelrohe Fleisch nahe den Schnittflächen schwitzte ein paar Blutsperlen. Mein Vater griff mit einer Hand ins Innere des Hasen, holte die Eingeweide heraus und legte sie in den Plastikeimer. Er tat das in einer Bewegung, die seinen ganzen Körper erfasste. Als würde er den Hasen zum Tanz auffordern, in dem er, das Standbein mehrmals wechselnd, in der einen Hand das Messer, die andere, freie, von sich gestreckt, den Rhythmus aufnahm, den ihm sein inneres Lied vorspielte: Er tauchte die Hand in den Bauch- und Brustraum, zog das Gekröse ans Licht und ließ es mit einem ansatzlosen Bogenschwung in den Eimer sinken. Nichts Anderes hatte mein Vater mit dieser bewusstlos konzentrierten Bewegung im Sinn als zu verhindern, dass ihn auch nur ein einziger Tropfen der fremden Körperflüssigkeit traf. Nichts Anderes konnte ich denken.
Meine Erinnerung will, dass mein Vater einen dunkelbraunen Anzug trug. Ich sehe sogar ein weißes Hemd mit Krawatte, als wäre er von der ebenerdigen Berufstätigkeit direkt zum Ausnehmen in den Keller gegangen.
„Woher kannst du das, Papa?“
„Ich hatte als Kind viele Kaninchen.“
Mein jüngerer Bruder kam in die Waschküche. Er sah uns an, als wäre er gewarnt worden, zu Vater und mir in den Keller zu gehen. Mein Bruder musterte den abgezogenen Hasen und kam näher. Ich weiß nicht genau, ich würde sagen, so zieht einer in den Krieg, der nicht der seine ist. Keiner von uns dreien sagte ein Wort. Es wurde deutlich, dass mein Bruder unbedingt in den Eimer gucken musste; was er auch tat. Er stöhnte auf, kniff sich die Nase zu und rannte weg. Jetzt erst merkte auch ich den schweren Geruch, der in der Waschküche hing, ein lauwarmer Duft von Abschied und Verheißung; man musste sich entscheiden. Ich mochte ihn. Kein Grund wegzurennen. Ich war stolz auf mich. Ich habe auch den Hasen gern gegessen, den es den kommenden Sonntagmittag zu essen gab, wenn – die nachträgliche Bemerkung sei erlaubt – ich ihn selbst auch wohlschmeckender zubereitet hätte als meiner Mutter es gelang. In meinem Leben tauchten fortan immer wieder tote Hasen auf.

Christoph Baumanns
21. April 2011


 

 



adagio

auf der tonspur
fledermäuse
still
im regen

Ulrike Bail
7. Dezember 2011

 

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