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Ulrike Bail
7. Dezember 2011

 



Vaters Vermächtnis

Erst viele Jahre später – es müssen über vierzig sein – fuhr es mir wie Selbstgebranntes ein, dass die Haltung, die mein Vater vor dem kopfüber aufgehängten Hasen einnahm, die stärkste Körperspannung war, die ich jemals an ihm wahrgenommen habe.
Das Tier hing in der Waschküche, mit dem Rücken zur Wand, die Hinterläufe an Haken gebunden, die nicht zu diesem Zweck in der Decke befestigt waren. Mein Vater hatte das Fell erst oberhalb der Hinterpfoten rund herum, dann Lauf für Lauf entlang bis in den Schritt aufgeschnitten, schließlich mit beiden Händen gegriffen und kräftig ruckend bis über den Kopf gezogen, so dass das Hasengesicht nicht mehr zu sehen war.
Enthäutet sind wir Lebewesen doch alle gleich; das ebenfalls die spätere Erkenntnis während des Besuchs eines Anatomiekurses, zu dem mich ein befreundeter Medizinstudent (Friede seiner Seele!) mitgenommen hatte.
Auch ich drehte meinen kindlichen Kopf so weit ich konnte nach unten. Der Hase sah aus als hätte er vergeblich versucht, seinen dünnen, durchnässten und am Reißverschluss defekten Mantel über den Kopf auszuziehen. Ich verspottete ihn nicht. An einer Stelle am Fellrand sammelte sich mit einer Langsamkeit, die meine Blicke gefangennahm, das Blut des Tieres. Die ölig wirkende Flüssigkeit tropfte in zeitlichen Abständen, deren Ende ich kaum erwarten konnte, in den großen weißen Plastikeimer, sonst ungenutzes Inventar der Waschküche.
Mein Vater nahm das Messer, das ich zu keiner anderen Gelegenheit in seinen Händen gesehen habe, und schnitt die Bauchdecke des Hasen vom Schambein bis zum Brustbein auf. Das bloßgelegte, dunkelrohe Fleisch nahe den Schnittflächen schwitzte ein paar Blutsperlen. Mein Vater griff mit einer Hand ins Innere des Hasen, holte die Eingeweide heraus und legte sie in den Plastikeimer. Er tat das in einer Bewegung, die seinen ganzen Körper erfasste. Als würde er den Hasen zum Tanz auffordern, in dem er, das Standbein mehrmals wechselnd, in der einen Hand das Messer, die andere, freie, von sich gestreckt, den Rhythmus aufnahm, den ihm sein inneres Lied vorspielte: Er tauchte die Hand in den Bauch- und Brustraum, zog das Gekröse ans Licht und ließ es mit einem ansatzlosen Bogenschwung in den Eimer sinken. Nichts Anderes hatte mein Vater mit dieser bewusstlos konzentrierten Bewegung im Sinn als zu verhindern, dass ihn auch nur ein einziger Tropfen der fremden Körperflüssigkeit traf. Nichts Anderes konnte ich denken.
Meine Erinnerung will, dass mein Vater einen dunkelbraunen Anzug trug. Ich sehe sogar ein weißes Hemd mit Krawatte, als wäre er von der ebenerdigen Berufstätigkeit direkt zum Ausnehmen in den Keller gegangen.
„Woher kannst du das, Papa?“
„Ich hatte als Kind viele Kaninchen.“
Mein jüngerer Bruder kam in die Waschküche. Er sah uns an, als wäre er gewarnt worden, zu Vater und mir in den Keller zu gehen. Mein Bruder musterte den abgezogenen Hasen und kam näher. Ich weiß nicht genau, ich würde sagen, so zieht einer in den Krieg, der nicht der seine ist. Keiner von uns dreien sagte ein Wort. Es wurde deutlich, dass mein Bruder unbedingt in den Eimer gucken musste; was er auch tat. Er stöhnte auf, kniff sich die Nase zu und rannte weg. Jetzt erst merkte auch ich den schweren Geruch, der in der Waschküche hing, ein lauwarmer Duft von Abschied und Verheißung; man musste sich entscheiden. Ich mochte ihn. Kein Grund wegzurennen. Ich war stolz auf mich. Ich habe auch den Hasen gern gegessen, den es den kommenden Sonntagmittag zu essen gab, wenn – die nachträgliche Bemerkung sei erlaubt – ich ihn selbst auch wohlschmeckender zubereitet hätte als meiner Mutter es gelang. In meinem Leben tauchten fortan immer wieder tote Hasen auf.

Christoph Baumanns
21. April 2011


 

 

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